Wann feiert die Christenheit Ostern? Die Antwort auf diese Frage lautet seit dem 4. Jahrhundert klar und eindeutig: am ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond der Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche. Daß es trotzdem zu oft beträchtlichen (Unterschieden in der konkreten Datierung des Festes – und damit aller Gegebenheiten des Kirchenjahres, deren Festlegung von ihm abhängen – zwischen den orthodoxen und den sog. westlichen Kirchen und christlichen Gemeinschaften kommt, liegt daran, daß nicht etwa zeitgenössische astronomische Beobachtungen ihre Ansetzung bestimmen, sondern viele Jahrhunderte alte Vorausberechnungen, die sog. Paschalia.
Diese Paschalia stellten zu ihrer Entstehungszeit beachtliche astronomisch-mathematische Leistungen dar. Im Laufe der Zeit freilich haben die an sich verhältnismäßig geringen Differenzen, die zwischen den Berechnungsgrundlagen der Paschalia und der exakten Zeitdauer der astronomischen Abläufe bestehen, zu einer beträchtlichen Abweichung der tatsächlichen Osterdatierung von der natürlichen Vorgabe geführt, welche die kanonische Regel vorschreibt. So gehen die Paschalia von einer durchschnittlichen Zahl von 365,25 Drehungen der Erde um ihre eigene Achse (üblicherweise “Tag” genannt) pro Jahr aus, während ihre tatsächliche Zahl 365,2422 beträgt. Diese Unstimmigkeit ist im Laufe der Jahrhunderte auf 13 Tage angeschwollen. Dies hat zur Folge, daß die von den Paschalia angesetzte Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche auf den 3. April fällt, während sie tatsächlich schon am 21. März stattgefunden hat.
ähnlich verhält es sich mit der Lunation, der Zeit nämlich, welche der Mond benötigt, um einmal die Erde zu umkreisen, während der er auch seine von der Erde aus sichtbaren “Phasen” durchläuft. Sie beträgt 29,5306 Tage. Auch das wußte man zur Zeit der Erstellung der Paschalia noch nicht so genau, so daß jeder Vollmond, also auch der erste Vollmond nach Frühjahrsbeginn, der zum richtigen Ansatz des Osterfestes gebraucht wird, heute bereits vier Tage früher eintritt, als die Paschalia ihn ansetzten.
Folgen wir den astronomisch-natürlichen Abläufen, so ergibt sich z.B. für das Jahr 1998 folgendes Bild: Der erste Vollmond nach der Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche am 21. März tritt am 11. April ein. Der nächste Sonntag liegt bereits einen Tag später. Also wird das Osterfest am 12. April gefeiert. Folgen wir jedoch den alten Ostertafeln, den Paschalia, so müßte die Tag-und-Nacht-Gleiche am 3. April eintreffen, der nächste Vollmond aber am Mittwoch dem 15. April, so daß das “orthodoxe” Pascha am 19. April, also diesmal eine Woche später als das “westliche”, angesetzt ist. Weiter entfernt voneinander liegen beide Ostertermine jeweils dann, wenn der erste Vollmond nach dem 21. März vor dem 7. April liegt und folglich zur Berechnung des “orthodoxen” Pascha-Termins der nächste Vollmond abgewartet und vier weitere Tage hinzugezählt werden müssen, wie das z.B. im letzten Jahr (1997) der Fall war.
Immer wieder einmal führt die beschriebene unterschiedliche Anwendung derselben allgemein-christlichen Osterterminvorschrift auch zu einunddemselben Datum. Dies war zuletzt am 15. April 1990 so. Allerdings wäre dies wesentlich häufiger der Fall, müßte nicht nach orthodoxer Auffassung noch eine weitere Bedingung erfüllt sein, die im “Westen” unbekannt ist, nämlich daß das jüdische Pessach dem christlichen Pascha unbedingt vorauszugehen hat. Doch geht dieser Brauch auf eine falsche Interpretation altchristlichen Schrifttums durch berühmte byzantinische Kanonisten des 12. Jahrhunderts, wie Patriarch Theodoros Balsamon von Antiocheia, zurück. Wie Kaiser Konstantin den Bischöfen, die nicht am Allgemeinen Konzil von Nikäa im Jahr 325 hatten teilnehmen können, brieflich mitteilte, war es den Synodalen darum gegangen, in der Auseinandersetzung des Osterdatums künftig nicht mehr von der kurzfristigen alljährlichen Bekanntgabe des Pessachtermins durch den jüdischen Sanhedrin von Tiberias abhängig zu sein, sondern das Fest unabhängig von den Juden und jedenfalls nach der Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche zu feiern (vgl. 7. Apostolischer Kanon). Die gelegentlich von orthodoxer Seite gestellte Forderung, bei einer ökumenischen Einigung über den Ostertermin müsse der besagte geltende orthodoxe Brauch berücksichtigt werden, widerspricht demnach den altchristlichen Prinzipien insofern, als er die abgeschaffte Abhängigkeit vom Judentum auf neue Art wiederherstellt.
Ein Urteil über die gegebene Sachlage kann sich also jeder Einsichtige selbst bilden. Aufgabe der orthodoxen Kirchenleitungen ist es, die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Daß dabei nicht nur astronomisch-kanonische, sondern auch pastorale Gesichtspunkte eine Rolle spielen müssen, ist selbstverständlich. Ob dabei allerdings allzu große Rücksicht auf jene genommen werden muß, die den “alten Kalender” inzwischen zur unverzichtbaren Glaubenslehre erklärt haben, ist fraglich. Es handelt sich dabei offenkundig um “Fundamentalisten”, die, wenn nicht diesen, so eben andere Gründe finden werden, um ihre Opposition und ihre Schismen aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln.
Eine ausführlichere Darlegung des behandelten Problems
samt Quellenlage findet sich bei : Peter Plank, Zeitrechnung
und Festdatierung als ökumenisches Problem
(Handbuch der Ostkirchenkunde II, hrsg. v. W. Nyssen u.a.)
Düsseldorf 1989, 182-191.