Es gibt eine gewisse Vorbestimmung in der Verknüpfung der Schicksäle des deutschen und russischen Volkes. Trotz der großen geographischen Entfernung entwickelte sich bei den beiden Völkern bereits in der Zeit des Entstehens ihrer Staaten das Gefühl einer besonderen kulturellen Nähe zueinander. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl festigte sich, wurde geschwächt, durchlebte schwere Konflikte und Tragödien, wurde schwer geprüft, hörte aber nie auf zu existieren. Es erreichte von Mal zu Mal eine qualitativ höhere Stufe in der Entwicklung. Durch das Prisma der vergangenen Jahrhunderte treten deutlich die historischen Ereignisse im Leben der beiden Völker hervor, die ihre Entwicklung zur Freiheit hin prägten und zum entscheidenden Faktor für den Vormarsch des ganzen europäischen Kontinents in Richtung Zusammenarbeit und Vereinigung wurden.
Zu solchen Ereignissen gehört zweifellos die Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813. In dieser Schlacht haben die russischen Truppen und ihre Verbündeten (Preußen, Österreicher und Schweden) – getragen von den Ideen der nationalen und religiösen Selbstbestimmung – die Armee Napoleons besiegt und damit den Weg zur Befreiung Europas von der Unterdrückung geebnet.
Hundert Jahre waren nach der Völkerschlacht vergangen. Russland und Deutschland beteten all diese Jahre für ihre Söhne, die auf dem Schlachtfeld bei Leipzig für Freiheit und Unabhängigkeit fielen. Zum 100jährigen Jubiläum der Völkerschlacht beschloss man das Gedenken an die gefallenen Soldaten in einem Monument zu verewigen. Aber diese Form des demonstrativen Gedenkens war dem gläubigen russischen Menschen fremd. Deshalb wurde zu Ehren der Toten eine Kirche erbaut.
Hier muss erwähnt werden, dass in Russland bis Ende des 17. Jahrhunderts überhaupt keine Denkmäler gebaut worden sind. Zur Erinnerung an dieses oder jenes gesellschaftlich-politischen Ereignis wurden Kathedralen errichtet. Aus dieser Sicht entsprach die Errichtung der Kirche in Leipzig einer alten russischen Tradition. Man erinnert sich in diesem Zusammenhang an den Wunsch des Zaren Alexander I., nach dem Sieg über Napoleon eine Gedächtniskirche bei Moskau zu errichten. Sein Nachfolger Nikolaj I. begann diese Idee zu verwirklichen und legte den Grundstein zur Errichtung der Erlöser Kathedrale in Moskau. (In den 30-er Jahren wurde diese Kathedrale – eine der schönsten und prachtvollsten in Moskau – auf Befehl von Stalin zerstört.)
Es gibt jedoch zwei charakteristische Besonderheiten, die die Russische Kirche in Leipzig auszeichnen: ihre architektonische Eigenart und ihr Name – St. Aleksij-Kirche. Es wäre denkbar, dass der Baumeister W.A. Pokrowskij (1871 – 1913) hier einige Ideen realisieren wollte, die sowohl mit historischen als auch den damaligen aktuellen Ereignissen in Zusammen hang standen. Wahrscheinlich entspringen diese Ideen den zwei hervorragenden Denkmälern der altrussischen Architektur: der Mariä-Geburtskirche im Moskauer Kreml und der Himmelfahrtskirche von Kolomenskoje.
Die erste Kirche wurde zur Erinnerung an den Sieg des russischen Heeres auf dem Kulikowo-Feld auf der Anregung der Witwe des Fürsten Dmitrij Donskoj erbaut. Diesen Sieg kann man als ersten Schritt zur Befreiung Russlands von der Tatarenherrschaft werten. Einen großen geistlichen Beistand bei der Vorbereitung und Erringung des Sieges über die Mongolen und Tataren leistete Metropolit Aleksij (1354 – 1378), der die vereinzelten russischen Fürstentümer zum Kampf gegen das Joch vereinen konnte.
Die zweite Kirche – die Himmelfahrtskirche von Kolomenskoje (erbaut 1530 – 1532) ist ein einmaliges Denkmal der russischen Zeltdacharchitektur aus Stein. Die Chronik sagt aus, dass es in ganz Russland noch nie so eine Kathedrale gegeben hat. Sie wurde anlässlich der Geburt vom Thronfolger des Großfürsten Wassilij III. errichtet. Erinnert man sich daran, dass 1904 der langersehnte Thronfolger vom Imperator Nikolaj II. geboren und auf den Namen des heiligen Metropoliten Aleksij getauft wurde, so wird ersichtlich, weshalb der Grundrissplan der Kirche von Kolomenskoje als Bauplan für die Leipziger Kirche diente und weshalb sie den Namen des Metropoliten Aleksij erhielt.
Der Grundstein der Leipziger Kirche wurde am 28. Dezember feierlich gelegt. Am 17. Oktober 1913, zum 100jährigen Jubiläum der Völkerschlacht bei Leipzig wurde die Kirche vom Oberpriester des Heeres und der Marine Georgi Schawelski eingeweiht. Zur Einweihung kamen der Kaiser Wilhelm II., Vertreter der deutschen Öffentlichkeit, die russische Militärmission, der Synodalchor, der Archidiakon Konstantin Rosow sowie in Deutschland lebende Russen.
Die Gesamtbaukosten der Kirche betrugen 250 000 Goldrubel. Davon wurden 127 000 durch Spenden der russischen und deutschen Bürger zusammengetragen.
Die Feierlichkeiten begannen am 17. Oktober 1913. Aus den Gräbern des städtischen Friedhofs wurden die Überreste der gefallenen Helden in vier Särge umgebettet. Es fand eine Trauerfeier statt und danach wurden die Särge mit großer militärischer Ehrenbezeigung in die Krypta der Kirche überführt. Heute noch ruhen hier die Überreste des 28jährigen Generalleutnants Iwan Jegorowitsch (auf dem Grabstein Georgiewitsch) Schewitsch, des Generalmajors des Fürsten Nikolaj Kudaschew, des Oberleutnants Andreij Jurgenew sowie die Überreste unbekannter russischen Soldaten. Auch heute noch kann jeder Besucher gleich am Eingang in die Krypta die eingezogene dreifarbige Nationalfahne Russlands und das brennende Öllämpchen vor der Ikone der Auferstehung Christi erblicken, als Symbol des ewigen Lebens.
Den Grundriss der Kirche bildet ein Rechteck mit Apsiden für den Altar und den Glockenturm. Das Kirchengebäude besteht aus zwei Bauten. Der Grundbau dient als Sockel, auf dem sich der Hauptbau mit einem 16-flächigen Zeltdach und einer vergoldeten Kuppel mit dem Kreuz an der Spitze emporhebt. Den Eingang in die untere Kirche bilden verzierte Steinportale. In dem unteren Teil wurden im Jahre 1927 zum Gedenken an den heiligen Panteleimon eine kleine Kirche und einige Verwaltungsräume eingerichtet. Zum 1000. Jubiläum der Christianisierung Russlands wurde hier von dem Erzpriester Fjodor Pownyj eine Ikonenwand gemalt. Darüber hinaus wurden in dem unteren Raum eine bereits beim Bau der Kirche geplante Gemeindebibliothek und ein kleines Kirchenmuseum geschaffen.
Die Gottesdienste werden hauptsächlich in dem oberen Raum, der über 40 Meter hoch ist, abgehalten.
Besondere Aufmerksamkeit gebührt der prachtvollen Ikonenwand in der Oberkirche. In sieben Reihen sind hier 78 Ikonen angeordnet, die von dem Moskauer Maler L.M. Emeljanow, einem Schüler des großen russischen Künstlers Wasnezow stammen. Die Ikonenwand ist ein Geschenk der Donkosaken, deren Vorfahren in der Schlacht bei Leipzig tapfer gekämpft haben. Links von der mittleren Tür in der Ikonenwand – der Königstür – befindet sich die Ikone der Gottesmutter von Smolensk. Das ist eine Kopie jener berühmten Ikone, vor der der Feldmarschall M.I. Kutusow und sein Heer in der schweren Stunde beteten.
Vor der Ikonenwand sieht man die altrussischen Fahnen, die in der Zeit der Völkerschlacht von den Kosaken nach Leipzig mitgeführt wurden. Der prachtvolle Kronleuchter mit großen Schalen aus durchsichtigem Uralgestein (Jaspis) wurde in der Werkstatt von A. Ghlebnikow angefertigt.
Jeden Sonntag sowie an kirchlichen Feiertagen wird in der Leipziger Kirche die Göttliche Liturgie abgehalten. Während der Liturgie gedenkt man stets der in der Schlacht Gefallenen. Die Kirche betet um die Seelenruhe der Entschlafenen.
Besondere Aufmerksamkeit in der Leipziger Gedächtniskirche erwecken ihre Gedenktafeln, die sowohl im Kircheninneren als auch an der Fassade des unteren Baus zu sehen sind. Zwei Gedenktafeln, die am Eingang der unteren Kirche angebracht sind, geben Auskunft über die Zahl der in der Schlacht bei Leipzig gefallenen Soldaten. In die anderen sind die Bezeichnungen der Armeeeinheiten und der Regimente sowie die Namen der gefallenen russischen Offiziere eingemeißelt.
Am 06. Juli 1945 besichtigte der Marschall der UdSSR G.K. Shukow die Leipziger Kirche. Daraufhin erließ er einen Befehl, die Kirche in einen vorbildlichen Zustand zu bringen. So begannen große Renovierungsarbeiten in der Kirche.
Schon immer gab es durch die Gnade des Heiligen Geistes Propheten in der christlichen Kirche. Selbst in den unruhigen Zeiten, denen der sozialen Erschütterungen und Katastrophen, ersehen sie den Willen Gottes, Der den Völkern die Mission in Einigkeit und Brüderlichkeit zu leben, zugedacht hat.
Solche Gnade wurde auch dem Hierarchen der russischen orthodoxen Kirche, dem Metropoliten Ewlogij zuteil. Bei der zweiten Einweihung der Leipziger Kirche am 29. Januar 1928 prophezeite er: „Ich bete heute, dass diese schöne Kirche durch gemeinsame friedliche Bemühungen der Deutschen und der Russen als ein anschaulicher Beweis der Vereinigung der beiden Völker stehen möge. Ich bete, dass diese Kirche nie aufhören möge, das Werk Christi zu verwirklichen“.
Täglich ertönen in der St. Aleksij-Kirche zu Leipzig Gebete, die getragen sind von dem heißen Wunsch und der Sehnsucht der Gläubigen nach Einheit und Brüderlichkeit der Völker im Geiste göttlicher Wahrheit und Liebe.
Zum 100. Jahrestag ihrer Weihung wurde die Kirche mit Unterstützung der Städte Moskau und Leipzig voll renoviert.