Hochgeweihte Oberhirten, hochwürdige Väter, ehrwürdige Mönche und Nonnen, liebe Brüder und Schwestern!
An Euch alle, die in verschiedenen Ländern, Städten und Dörfern leben, aber die eine Russische Orthodoxe Kirche bilden, wende ich mich in dieser heiligen Nacht und beglückwünsche euch von Herzen zum welterlösenden Fest der Geburt Christi. Herzlich grüße ich euch, meine Lieben, und wünsche euch im Gebet, dass wir alle von der geistlichen Freude der gemeinsamen Teilhabe an diesem großen Fest erfüllt werden, und als Söhne und Töchter Gottes, als Freunde Christi (Joh. 15, 15) das Festmahl des Glaubens genießen.
Wenn wir jetzt das Geheimnis der Menschwerdung Gottes anschauen, streben wir danach, zu verstehen, welchen Sinn das Ereignis hat, das vor zweitausend Jahren in Bethlehem geschehen ist und welche Beziehung es zu uns und zu unseren Zeitgenossen hat.
Der heilige Apostel Paulus schreibt: „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die Sohnschaft erlangen“ (Gal. 4, 4-5). Was ging dieser Fülle der Zeit voraus? Die ganze Geschichte der Menschheit bis zur Geburt Christi ist ihrem Wesen nach die Geschichte der Suche nach Gott, als die besten Geister versucht haben, zu verstehen, wer der Quelle jener übernatürlichen Kraft ist, deren Gegenwart jeder Mensch so oder so spürt.
Auf dem Weg der Gottsuche fielen die Menschen in alle möglichen Verirrungen, während sie doch die Wahrheit zu finden suchten. Aber weder die primitive Angst des Menschen vor fürchterlichen Naturerscheinungen, noch die Vergöttlichung der Naturelementen, der Götzen, und zuweilen sich selbst, sogar die wenigen Erleuchtungen, die die heidnischen Philosophen das Licht zu sehen ermöglichten, haben die Menschen zu dem wahren Gott geführt. „Denn da die Welt angesichts der Weisheit Gottes auf dem Weg ihrer Weisheit Gott nicht erkannte“ (1 Kor. 1, 21), hat Gott selbst geruht, zu den Menschen herabzukommen. Mit den geistigen Augen schauen wir das große Geheimnis der Frömmigkeit: der Schöpfer gleicht sich der Schöpfung an, nimmt die menschliche Natur an, duldet die Erniedrigung, stirbt am Kreuz und ist auferstanden. All dies übersteigt das menschliche Verstehen und erscheint als ein Wunder, das die Fülle der Selbstoffenbarung Gottes an die Menschen erschließt.
Christus ist geboren – und die Welt hat die Hoffnung erhalten, Christus ist geboren – und Liebe herrscht in Ewigkeit, Christus ist geboren – und der Himmel neigte sich zur Erde, Christus ist geboren – und der Stern von Bethlehem zeigt den wahren Weg zu Gott, Christus ist geboren – und keiner soll an den Triumph des Übels glauben, „denn aus Gnade seid ihr durch den Glauben gerettet, nicht aus eigener Kraft – Gott hat es geschenkt“ (Eph. 2, 8).
Als der Prophet Jesaja das Kommen des Messias erwartete und vorhersah, rief er: „Gott ist mit uns!“ (Jes. 8, 10). Seine gottinspirierten Worte sind auch heute die Quelle der unsagbaren Freude für Millionen Christen. Als der HERR in Bethlehem geboren wurde, ward er auch in unseren Herzen geboren und bleibt mit uns, wenn wir die Treue ihm und der von ihm gegründeten Kirche bewahren. Er ist mit uns, wenn wir gute Werke tun. Er ist mit uns, wenn wir unseren Nächsten helfen. Er ist mit uns, wenn wir mitleiden und mitfühlen. Er ist mit uns, wenn wir Feinde miteinander versöhnen. Er ist mit uns, wenn wir vergeben und des Bösen nicht gedenken. Er ist mit uns, wenn wir beten und an den kirchlichen Mysterien teilhaben, vor allem am Mysterium der Danksagung, an der heiligen Eucharistie.
Das Fest der Geburt Christi spricht zu uns vom Wichtigsten: wir sind gerufen zu lernen, Gott zu lieben und ihm zu dienen, unserem Erlöser, der diese Erlösung allen Völkern auf alle Zeiten geschenkt hat, der auch heute jeden von uns umarmen möchte. Indem wir die Fähigkeit zur wahren Verehrung Gottes finden und ehrfürchtig vor Ihm zu stehen, lernen wir damit auch, unseren Nächsten zu dienen, „den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist“ (Gal. 5, 6).
Wir aber brauchen nur Weniges zu leisten, nämlich zu antworten auf das Wirken der rettenden Gnade Gottes mit seinem Gehorsam, seinem Vertrauen auf die Worte des HERRN, dem Wunsch, seine Gebote zu erfüllen. Wenn wir diese große Wahrheit zu eignen machen, so wird sich sehr Vieles nicht nur in uns, sondern auch um uns herum ändern. Wir werden die Werteprioritäten richtig einzuordnen wissen, friedlich, gelassen und vertrauensvoll auf den uns von oben bestimmten Lebensweg schreiten können, indem wir Gott Lob und Dank geben.
Um einen solchen Geisteszustand zu erlangen, müssen wir Orthodoxe nicht nur gemäß soziologischen Umfragen sein, sondern gemäß den eigenen tiefen Überzeugungen und der Lebensweise nach, wie es unsere glühend gläubigen und gottliebenden frommen Vorfahren waren. Unter ihnen nimmt der heilige apostelgleiche Großfürst Wladimir einen besonderen Platz ein. Das Jahrtausend seines seligen Ablebens werden wir in diesem Jahr begehen. Gerade ihm sind wir dadurch verpflichtet, dass wir Träger der hohen christlichen Berufung sind und gemeinsam die eine Familie der orthodoxen brüderlichen Völker der historischen Rus‘ bilden. So war es, so ist es und so wird es sein. Kein zeitlicher Aufruhr und keine Prüfungen, keine äußeren Kräfte können diese jahrhundertelangen geistlichen und kulturellen Beziehungen der Erben des Kiewer Taufbeckens zerstören.
In diesen heiligen Weihnachtstagen des Gebetes der ganzen kirchlichen Fülle gilt auch mein inständiges Gebet dem Frieden im ukrainischen Lande. Unabhängig vom Wohnort ihrer Kinder, ihren politischen Ansichten oder Vorlieben, erfüllt die Russische Orthodoxe Kirche jene verantwortungsvolle Mission, die ihr Christus selbst auferlegt hat (Mt.5, 9). Sie tat und tut alles Mögliche dafür, um die Menschen auszusöhnen und zu helfen, die Folgen der Feindschaft zu überwinden.
Jeder Konfrontation, Hass und Spaltungen liegt die Sünde zugrunde. Sie bewirkt nach dem Wort des ehrwürdigen Justin von Čelije, „mit allen ihren Kräften das Eine: sie entgöttlicht und entmenschlicht den Menschen“ (ehrw. Justin Popović, „Die philosophischen Abgründe“). Und wir sehen, in welchem Höllenzustand bisweilen ein Mensch ist, der die von Gott geschenkte Würde eingebüßt hat.
Die Kirche aber ruft im Namen Gottes, indem sie unermüdlich den Menschen die große Freude über die Geburt des Erlösers (Lk. 2, 10) verkündet, jeden Erdgeborenen auf, fest an ihn zu glauben und sich zum Besseren zu verändern. Sie weist den Weg des Aufstiegs: von der Suche nach Gott zur Gotteserkenntnis, von der Gotteserkenntnis zur Gemeinschaft mit Gott, von der Gemeinschaft mit Gott zum Gleichwerden mit Gott. Der heilige Athanasius der Große, der im IV. Jahrhundert in Alexandrien lebte, hat das Ziel des Kommens des Erlösers in die Welt mit erschütternden Worten ausgedrückt: „Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch Gott werden kann“. Nicht seiner Natur nach, sondern der göttlichen Gnade nach. Die gesamte jahrhundertelange Erfahrung der Kirche bezeugt, dass die genuine Verklärung und Vergöttlichung durch die Gnadenwirkung beim freiwilligen Zusammenwirken zwischen Gott und Mensch erlangt wird. Und das wird durch Arbeit erreicht, im Gehorsam gegenüber dem Schöpfer und nicht durch die Annahme der teuflischen Versuchung der Schlange, die unseren Voreltern vorschlug, vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen, um wie Gott zu werden (Gen. 3, 5). Jeder, der aus dem Glauben lebt, weiß, dass nämlich die Treue zu Gott ihn von bösen Taten und Gedanken fernhält, dass nämlich der Glaube an ihn zu Großtaten und Werken um Gottes willen und zum Wohl der Nächsten ermuntert.
Indem ich euch allen zum großen Fest der Geburt Christi und zum neuen Jahr gratuliere, möchte ich euch auch, von ganzer Seele gute Gesundheit, Frieden, Wohlergehen und reiche Hilfe von oben in der ungeteilter Nachfolge unseres HERRN und Erlösers wünschen.
Der Gott aller Gnade aber, der euch in der Gemeinschaft mit Christus zu seiner ewigen Herrlichkeit berufen hat, wird euch … wieder aufrichten, stärken, kräftigen und auf festen Grund stellen. Sein ist die Macht in Ewigkeit. Amen (1 Pet. 5, 10-11).
+ Kirill, Patriarch von Moskau und der ganzen Rus’
Geburt Christi, Moskau, 2014/2015